Auf ein Wort

Ein (un)erwarteter Besucht

Ich bin ganz ehrlich: Es ist mitten im Oktober, während ich diese Zeilen schreibe und obwohl es seit September Spekulatius im Supermarkt gibt, ist von beginnender Weihnachtsstimmung bei mir keine Spur. Weihnachten fühlt sich gerade noch fern an – die Zeit der Lichter, der Weihnachtsmärkte und ebenso der Duft von Glühwein. 
Deshalb bin ich überrascht, als es plötzlich an meiner Tür klingelt. „Wer könnte das sein?“ frage ich mich und öffne. Ein Engel steht vor mir.Weil ich gerade diesen Artikel anfangen wollte zu schreiben, denke ich bei seinem Anblick sofort an Weihnachten und an die Engel, die den Hirten die frohe Botschaft brachten: „Fürchtet euch nicht.“ Doch dieser Engel sieht anders aus – müde, als ob er den Weg hierher zu Fuß gekommen sei. Ich biete ihm ein Glas Wasser an. Dankbar nimmt er es an und stürzt es in einem Zug hinunter. Jetzt sieht er etwas besser aus.
„Sag mal, bist du nicht zu früh?“ frage ich. „Verkündest du nicht erst zu Weihnachten die frohe Botschaft mit den Worten ‚Fürchte dich nicht‘?“ Der Engel schaut mich an, verwirrt. „Zu früh?“ wiederholt er vorwurfsvoll. Dann seufzt er und sagt. „Vielleicht. Aber ich finde die Botschaft ist nicht an ein Datum gebunden.“Er setzt sich selbstbewusst auf mein Sofa, seine Flügel sind nicht mehr so schlaff wie vor wenigen Minuten. „Ich dachte, das ‚Fürchte dich nicht‘ gehört zur Weihnachtsgeschichte,“ sage ich unsicher und gehe mein theologisches Wissen im Kopf noch einmal durch. Jetzt lächelt er. „Weihnachten, Oktober oder Januar – spielt das eine Rolle?“ fragt er. „Menschen brauchen diese Worte das ganze Jahr. Erst recht, wenn man sie am wenigsten erwartet.“ Ich denke nach. Engel und das „Fürchte dich nicht“ gehören für mich normalerweise in die festliche Zeit. Doch eigentlich hat er Recht: Seine Worte haben das ganze Jahr eine Bedeutung. Bei all den Nachrichten, die täglich auf uns einprasseln, täte es tatsächlich gut, sie immer mal wieder zu hören. „Also gut“, sage ich schließlich. „Dann sag es.“ Der Engel erhebt sich langsam, richtet sich auf, wirkt größer, fast majestätisch. Er sieht mir in die Augen und spricht: „Fürchte dich nicht.“ Seine Worte hallen in mir nach und treffen mich mitten in mein Herz. Sie fühlen sich wie ein Segen an – eine Erinnerung daran, dass ich nicht allein bin. „Gott ist bei dir, in jeder Jahreszeit,“ fügt er hinzu. „Du musst dich nicht fürchten.“ Ich nicke. Vielleicht habe ich diesen Besuch gebraucht – nicht nur zu Weihnachten, sondern genau jetzt. Der Engel bewegt sich nun Richtung Tür, bereit zum Aufbruch. Er hat wohl neue Kraft geschöpft. „Sag mal,“ frage ich schnell, „zum Weihnachtsfest kommst du aber trotzdem, oder?“ Er lächelt breit, fast als hätte ich ein Scherz gemacht. „Auf jeden Fall. Und auch während der Silvesternacht rufe ich euch Menschen extra laut noch einmal zu: Fürchtet euch nicht!"

In diesem Sinne: Ich wünsche Ihnen ein schönes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch in das neue Jahr. 

Bis bald, Ihre Pastorin Deborah Siemermann

Pastorin

Deborah Siemermann